Beweglichkeitsdefizite im Schultergürtel führen beim Krafttraining mit Überkopf-Übungen schnell zu schmerzhaften Reaktionen. Oft fehlt das notwendige Maß an Schulterbeweglichkeit.
Hochwirksame Überkopf-Kraftübungen können ein eben solches Negativpotential entfalten, wenn der Athlet nicht die nötigen Beweglichkeitsvoraussetzungen mitbringt. So sind mit der Kugelhantel, als auch mit der Langhantel Umsetzen (Cleans), Kraftdrücken (Power Presses), Schwungdrücken (Push Presses) und Stoßen (Jerks) möglich. Um diese Übungen verletzungsfrei durchführen zu können, ist eine uneingeschränkte Schulterbeweglichkeit erforderlich. Häufig wird betont, dass diese Übungen die Schulterbeweglichkeit verbessern. Hier sollte man jedoch sehr vorsichtig sein, denn tatsächlich haben diese Übungen bei auch ein hohes Potential für Schulterverletzungen. Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich bei allen Trainingsübungen um Fertigkeiten – also sportliche Techniken – handelt. Wenn von Beweglichkeitsdefiziten die Rede ist, dann muss dies immer in einem spezifischen Zusammenhang gesehen werden:
Beweglichkeit wobei?
Ein Powerlifter benötigt eine andere Beweglichkeit als ein Gewichtheber. Im Ring-Turnen wird eine andere Beweglichkeit benötigt als beim Sprung. Ein Hürdensprinter benötigt eine andere Beweglichkeit als ein Sprinter. Ein Stabhochspringer….usw. Von einer „allgemeinen“ Beweglichkeit zu sprechen ist daher problematisch, denn je nach Sportart kann es auch ein „zuviel“ an Beweglichkeit geben. Der Trainer sollte sich also genau über das Beweglichkeitsprofil seiner Disziplin bewußt sein.
Im Bereich des Krafttrainings kommt durch die erhöthen Lasten noch ein weiterer Stolperstein hinzu: Je stärker man wird, umso stärker wirken sich Funktionsdefizite auf körperliche Strukturen aus. Dies kann man mit einem Auto vergleichen, dessen Fahrwerk fehlerhaft ist und man zur Behebung einfach einen stärkeren Motor einbaut, weil man schneller fahren möchte. Der stärkere Motor bewirkt schnellere und deutlichere strukturelle Veränderungen, als der schwächere Motor. Das Resultat von Fehlfunktion sind abnorme und unphysiologische Verschleißerscheinungen.
Um eine maximale Hypertrophie zu stimulieren werden im Krafttrainnig oft Methoden bis zur Ermüdung eingesetzt. In Zusammenhang mit den o.g. Übungen und hohen Gewichten kann es zu Veränderungen der Reflexantworten des ZNS kommen, die maßgeblich für eine neuromuskuläre Kontrolle des Gelenks verantwortlich sind. Ein instabiles Schultergelenk ist prädestiniert für Verletzungen, daher ist das Training bis zur Ermüdung skeptisch zu betrachten.
Nicht selten weisen Schmerzen auf ein Impingement im Schultergelenk hin. Um das Schultergelenk scharen sich sehr viele Muskeln. Die Wahrscheinlichkeit für muskuläre Dysfunktionen sind hoch, was dazu führt, dass der Oberarmkopf sich dem coracoacromialen Bogen nähert und der Andruck steigt, was letztendlich zu Schmerzen führen kann. Die Gründe hierfür können in degenerativen Veränderungen, Hypertrophie von Muskeln oder Bindegewebe liegen. Oft übersehen werden Tonusveränderungen der umgebenden Muskeln, die das Gelenk aus der Balance bringen und dadurch veränderte Reflexantworten und Timingsequenzen der Stabilisatoren hervorrufen. Diese Auswirkungen werden in einer in einer veränderten Schulterblattposition deutlich.
Scapulo-Humerales Zusammenspiel
Um genug Platz zwischen dem Oberarmkopf und dem coracoacromialen Bogen zu halten muss sich das Schulterblatt während Überkopf-Übungen sich normalerweise nach hinten zurückziehen. Wer genauer nachlesen will: W. Ben Kibler, MD: The Role of the Scapula in Athletic Shoulder Function 1998 vol. 26 No. 2 325-337. Auch ein überaktiver pectoralis minor führt zu einer fehlerhaften Schulterblattbewegung bei Überkopfarbeit, wie diese Studie zeigt. Weiterhin ist zu bemerken dass, ein dysfunktionales Zusammenspiel zwischen Schulterblatt, Oberarm und Brustwirbelsäule zusätzlich zu einer eingeschränkten Bewegungsreichweite führen kann. Dies bedeutet neben der gesteigerten Verletzungsanfälligkeit eine Leistungsminderung, da schwerere Gewichte in dieser Form kaum stabil überkopf gehalten werden können.
Brustwirbelsäule und Schulterschmerzen
Viele Athleten, die sich von uns betreuen lassen, verfügen zu Anfang über eine ausgesprochen schlechte Beweglichkeit der Brustwirbelsäule (BWS). Eine uneingeschränkte Funktion der BWS und Schulterblattbewegung ist jedoch für ein verletzungsfreies Training mit Überkopf-Übungen unerlässlich. Je höher ein Sportler den Arm hebt, desto mehr Bewegung wird in der BWS erforderlich, um die korrekte Schulterblattstellung zu gewährleisten. Personen mit Schulter Impingement haben statistisch weniger BWS Beweglichkeit und eine stärkere Kyphose als Personen mit gesunden Schultergelenken (Crawford HJ, Jull GA. The influence of thoracic posture and movement on range of arm elevation. Physiotherapy Theory and Practice, 1993;9:143-148;Greenfield B, et al. Posture in patients with shoulder overuse injuries and healthy individuals. Journal of Orthopedic Sports Physical Therapy, 1995;5:287-295.).
Schon wenige Wochen Kettlebelltraining oder Gewichtheben mit einer unbeweglichen BWS kann zu Verletzungen und Schädigungen der Schultergelenke oder Rotatorenmanschette führen.
Konsequenzen
Gerade bei Überkopfbewegungen sollte vor der Aufnahme eines Trainings geklärt werden, ob potentielle Dysfunktionen der Schultermechanik vorhanden sind. Benötige ich dazu spezielle Tests? Nein. Der Trainer sollte genau wissen bei welcher Übung das Problem zum Vorschein kommt und das Beweglichkeitstraining gezielt auf diese Übung ausrichten. Der Test ist also immer die eigentliche Fertigkeit, die ich trainieren möchte. Klingt ziemlich einfach und logisch, oder? Ist es auch!