In „Der Wissenschaftswahn“ beleuchtet der Biologe und Bestsellerautor Rupert Sheldrake kritisch die Rolle der Wissenschaft und seiner Akteure. Wir ergänzen mit Beispielen aus der Sportwissenschaft und Fitnessindustrie.
Sheldrake greift zehn Dogmen der Naturwissenschaften auf und stellt diese in Frage. Kernpunkt seiner Kritik ist vor allem das mechanistische Verständnis der Wissenschaft über Natur und Mensch. Der Autor liefert überzeugende Belege und praktische Beispiele, welche die begrenzte Sichtweise der „biologischen Maschine“ im Gegensatz zum „lebendigen Organismus“ aufzeigen. Interessanterweise bemerkte bereits Theodor W. Adorno in seiner „Theorie der Halbbildung“, dass ein halbgebildeter Mensch über das selbe Wissen verfügen kann, wie ein Gebildeter. Jedoch gebraucht er sein Wissen, indem er Phänomene klassifiziert und subsumiert, anstatt sie in ihrer vollen Lebendigkeit zusammenhängend zu begreifen. Beispiele, wo (temporär) immer nur einzelne Dinge herausgestellt werden, gibt es aus unserem Kulturkreis es genug: Mal sind es die Faszien, dann der Stoffwechsel, dann wieder die Gene, oder das Titin und so weiter.
Sheldrake liefert dazu Beispiele aus Gesellschaft, Physik, Astronomie und den Neurowissenschaften, bleibt auch die Medizin und Biologie nicht unerwähnt. So kann er zum Beispiel aufzeigen, dass der Versuch der Bestimmung der Erhaltung der menschlichen Energiebilanz bisher nicht bewiesen werden konnte. Kurz gesagt: Es ist nicht erklärbar, dass ein Mensch mehr Energie produzieren kann, als er mit der Nahrung aufnimmt. Eine Katastrophe für jeden Mechanisten, Ernährungsberater, die Lebensmittelindustrie. Gut, dass es manche Dinge nie ins Rampenlicht schaffen werden, wir brauchen schließlich Wachstum. Nein, nicht geistiges Wachstum, ich meine wirtschaftliches.
Zurück zur Wissenschaft. Ein grundlegendes Problem sieht der Autor in der Voreingenommenheit der mechanistisch denkenden Wissenschaftler: „Wenn die Resultate mit den Erwartungen übereinstimmen, werden sie bereitwillig akzeptiert, während unerwartete Resultate als fehlerhaft verworfen werden“. Das Wissenschaftler auch nur Menschen sind, wird in Kapitel 11 – Die Illusion der Objektivität deutlich. Hier Erfahren wir, wie der Drang nach Anerkennung, Forschungsmitteln, sowie wirtschaftliche und politische Interessen Forschungsergebnisse manipulieren. Was nicht ins Bild passt, wird verschwiegen.
Ein Beispiel zu Voreingenommenheit aus der Sportwissenschaft: Wenn der Name Prof. Dr. Dr. Jürgen Gießing in Zusammenhang mit Untersuchungen zum Krafttraining fällt, geht es meist um geringvolumiges Krafttraining, Einsatz-Training, oder auch High-Intensity-Krafttraining. Der Name Gießing bürgt dafür, dass immer etwas Positives aus den Ergebnissen seiner Studien zu HIT & Co herauskommt. Irgendwie ein merkwürdiges Gefühl, wenn man bereits vor dem Lesen einer Studie weiß, zu welchem Resümee diese kommen wird. Dabei gibt der gesamte Forschungsstand zum Thema Muskelaufbau doch selten so klare Aussagen: Mehr Volumen (Umfang) = Mehr Muskelaufbau, insbesondere bei einem langfristig angelegten Krafttraining. Nun gut, jeder so wie er will.
Sheldrake schildert, wie ungern Rohdaten von Wissenschaftlern herausgegeben werden, um sie nochmals zu analysieren, wie selten Experimente reproduziert werden, oder wie die Erwartungshaltung Ergebnisse beeinflusst. Der Autor belegt, dass ironischerweise der Anteil von Studien mit Blindanteil (Versuchspersonen und Wissenschaftler wissen nicht, wer der Experimental- oder der Kontrollgruppe angehört) in der Parapsychologie am höchsten ist und nicht in den anerkannten „harten“ Wissenschaften. Erfreulicherweise gibt es hier auch aktuelle Tendenzen zur sogenannten Open Science, bei der Forschungsdaten frei zugänglich gemacht werden. So haben beispielsweise Magdeburger Hirnforscher im Mai 2014 den bislang umfangreichsten Rohdatensatz über die Verarbeitung von Sprache im Gehirn veröffentlicht.
Im Kapitel „Schwindel und Täuschung in der Wissenschaft“ erfährt der Leser, wie Schummeleien trotz qualitätssichernder Konventionen, wie dem Peer-Review oder Sachverständigengutachten, stetig zunehmen. Offensichtlich macht der Trend zum Abschreiben auch nicht vor den Wissenschaften halt. Im Internet gehört die Copy&Paste-Mentalität schon längst zum guten Ton. Sheldrake spart glücklicherweise auch nicht aus zu erklären, mit welchen Strategien der Lobbyismus die Wissenschaft missbraucht, um ein positives Bild seiner Produkte oder Interessen zu kreieren. Dies spielt im Übrigen auch in der Fitness-und Gesundheitsbranche eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wissenschaft suggeriert Kompetenz oder den Beweis, dass ein Produkt funktioniert. Es geht schließlich auch hier um viel Geld, da werden sich doch ein paar grauhaarige Männer mit weißen Kitteln finden lassen, die das bestätigen können.
Im Schlusskapitel erhalten wir einige interessante Ansätze, wie die Wissenschaften in die Lage versetzt werden können, Mensch und Natur besser zu begreifen, als nach den bisherigen mechanistischen Sichtweisen. Insbesondere der Anspruch auf Objektivität und absolute Autorität muss laut Sheldrake neu überdacht werden. Damit trägt der Autor sicherlich zu einer Annäherung von Wissenschaft und Praxis bei.
Sheldrake, R. (2012). Der Wissenchaftswahn – Warum der Materialismus ausgedient hat. Hardcover, O.W. Barth, 496 Seiten. ISBN: 978-3-426-29210-5.