Belauscht man Fachgespräche der Radsport- und Triathlon-Gemeinde, oder sichtet deren einschlägige Fachmagazine, so gewinnt man folgenden Eindruck über ihre Top-Themen: Erstens: Material, zweitens: Material, drittens: Material, dann komm lange Zeit nichts, dann Accessoires und dann Training. Von Krafttraining ganz zu schweigen.
Dabei hat sich Krafttraining in vielen Sportarten als fester Bestandteil des Trainings etabliert. Aus fachlicher Sicht gibt es in bestimmten Bereichen, wie in den Ausdauersportarten oder den Sportspielen, jedoch noch berechtigte Unsicherheiten über die geeigneten Trainingsinhalte und -methoden zur optimalen Unterstützung der Sportart.
Dies bestätigen auch die Kollegen Wagner, Mühlenhoff und Sandig mit Ihrem im Elsevier-Verlag erschienenen Buch „Krafttraining im Radsport“ und weisen darauf hin, dass der Erkenntnisstand zu den Wirkungen eines ergänzenden Krafttrainings auf die Ausdauerleistungsfähigkeit unbefriedigend ist. Dennoch wagen die Autoren den Versuch sich für ein Krafttraining im Radsport auszusprechen. Inwieweit sie damit überzeugen können, wollen wir in dieser Rezension besprechen.
Um den unbedarften Materialfetischisten für das Thema Krafttraining zu sensibilisieren, holen die Autoren entsprechend weit aus. Man erhält eine ausführliche Einführung in die physiologischen Grundlagen, Methoden und Trainingsplanung im allgemeinen Krafttraining. Dabei wird versucht in bestimmten Bereichen den Bezug zu zum Radsport herzustellen. Für die Zielgruppe der Sportwissenschaftler oder Trainer bleibt das Buch dabei in vielen Bereichen recht allgemein. Der größte Teil besteht in der Zusammenfassung der Grundlagenliteratur über Krafttraining. Ob nun nötig oder nicht, darüber lässt sich sicherlich streiten. Unstrittig ist: Was hier an Grundlagen erklärt wird, ist sehr gut aufbereitet. Der Schreibstil gefällt in seiner nüchtern-sachlichen Art und ist zudem noch verständlich formuliert. Das Layout verzichtet auf Desgin-Firlefanz und bunte Fotos. Man merkt: hier geht es um Inhalte, nicht um Verpackung.
Ganz ohne neue Aspekte wird der Trainer und Sportwissenschaftler jedoch nicht aus diesem Buch gelassen. So kann überzeugend dargestellt werden, dass das bisher praktizierte „Kraftausdauertraining“ auf dem Rad (bergauf fahren mit schwerem Gang) aus trainingswissenschaftlicher Sicht kein Krafttraining, sondern ein Ausdauertraining nach der Intervallmethode ist. Ein Krafttraining auf dem Rad ist nach dieser Methodik nicht möglich, weil die Intensität nicht hoch genug sei (mindestens 50 Prozent der Maximalkraft), um die entsprechenden Anpassungen zu sichern. Zudem werden im Rennen auch höhere Trittfrequenzen gefahren, so dass eine Übertragung der Motorik in der Tat fraglich erscheint.
Kleiner Einschub: Inspiriert dadurch, hat mich dann doch mein Ehrgeiz gepackt und – wie es scheint – habe ich den Durchbruch geschafft ein effektives Kraft- und Beweglichkeitstraining mit dem Rad in einem geheimen trainingswissenschaftlichen Untergrundlabor zu entwickeln:
In Kapitel 5.2 wird aufgegriffen, wie die im Kraftraum antrainierte Muskelkraft auf die Leistung beim Radfahren übertragen werden kann. Vorweg wird klargestellt „dass ein Steigern der Muskelkraft sowohl durch ein Trainieren an Maschinen als auch mit Hanteln zu erreichen ist“ (S.85). Diese Tatsache wird mit „In der trainingswissenschaftlichen Literatur wird daher deutlich darauf hingewiesen, dass die intermuskuläre Bewegungskoordination nicht auf eine anders strukturierte Übung übertragbar ist“ (S. 88) untermauert. Dies bedeutet also, dass es im Rahmen eines allgemeinen ergänzenden Krafttrainings schlichtweg nicht messbar entscheidend ist, womit man seine Muskelkraft steigert.
Im Rahmen der traditionellen „Maschinen versus Freihanteln“-Kontroverse sprechen sich die Autoren dennoch für ein Krafttraining mit Freihanteln, speziell mit der Langhantel aus. Aus den allgemeinen Vorteilen des Freihanteltrainings, leiten die Autoren einen Übertragungsvorteil zum Radsport ab. Für meinen Geschmack ist dies etwas zu spekulativ, da zum einen den o.g. Fakten widersprochen wird und zum anderen der aktuelle Stand der Transferforschung darauf hinweist, dass die Mechanismen eines bilateralen Transfers von motorischen Fähigkeiten noch gar nicht richtig verstanden sind (Issurin, 2013).
Schließlich muss noch einmal betont werden, dass es in einem allgemeinen und ergänzenden Krafttraining auch nicht darum geht sportliche Bewegungsabläufe zu simulieren. So kann die Freihantel-These speziell für Radsportler leider auch nur mit einer einzigen Literaturquelle aus 1989 untermauert werden. Bedauerlicherweise scheint es hier nicht mehr Belege zu geben, denn die Autoren müssen hier auf weniger passende Beispiele zu ganz anderen Fertigkeiten, wie dem Vertikalsprung oder Sprintleistungen zurückgreifen.
Für die zweite Aufläge wäre dies sicherlich ein Gebiet, in dem noch Potential versteckt ist, zumal zwischenzeitlich möglicherweise neue Literatur zu diesem Thema verfügbar ist. Zudem wäre es höchst interessant den Status Quo des Krafttrainings im Radsport von der praktischen Seite her zu beleuchten: Wie viele der UCI-Top-20-Fahrerder letzten zehn Jahre führen ein systematisches Krafttraining durch? Wie sieht das Krafttraining der zehn letzten Gewinner der Sprintwertung der Tour de France aus? Trainieren Cyclocross-Profis im Kraftraum? Wenn ja, mit welchen Trainingsmitteln? Welche Orientierungserte gibt es bei den Kraftwerten für unterschidliche Fahrertypen? Inwiefern müssen leistungsbestimmende Oberkörper-Unterköper-Dysbalancen bei der Übungsauswahl berücksichtigt werden?…etc. Damit könnte man den eigenen Argumenten noch mehr Nachdruck verleihen, bzw. diese modifizieren. Zudem wären zusätzliche trainingsmethodische Vorschläge zum Krafttransfer auf das Rad – so wie in anderen Sportarten üblich – eine wertvolle Ergänzung.
Spannend wäre zudem eine Analyse der Entwicklung des Fahrertypus in bestimmten Disziplinen. So ist beispielsweise bei der Olympiade 1980 in Moskau im 100 km Mannschaftszeitfahren der ziemlich muskulöse Krafttypus auffällig, wie dieses Video eindrucksvoll zeigt. Man wird sich seinerzeit trainingsmethodisch sicherlich etwas dabei gedacht haben – genau so wie bei den abenteuerlichen Sitzpostionen. Die Physiognomie in vergleichbaren Disziplinen ist heute eine andere und muss folglich mit einer veränderten Trainingsmethodik zusammenhängen. Wovon diese Veränderungen genau ausgegangen sind, wäre ein hochinteressantes Kapitel für die nächste Auflage.
Fazit
Die Autoren Wagner, Mühlenhoff und Sandig liefern eine erstklassige Aufarbeitung wissenschaftlicher Fakten und bauen darauf hin ihre Empfehlungen für das Training auf. Sie dokumentieren zudem das aktuelle Forschungsdefizit in diesem Bereich und geben Hinweise für weitergehende, noch offene Forschungsfragen. Auf seinem jetzigen Evolutionsstand müsste daher „Krafttraining im Radsport“ treffender „Krafttraining und Radsport“ heißen. Es bleibt also noch Entwicklungspotential. Um auf dem aktuellsten Wissensstand zu sein, sollte jeder ambitionierte Radsporttrainer und -athlet dieses Standardwerk gelesen haben.